Skip to main content

Digitale Gesundheitskompetenz - Krankenkassen als Partner für eine aktive und informierte Gesundheitsentscheidung

In unserem vierten Blogbeitrag erläutert unser Kollege Tim Bartling, Consultant im FutureTech-Team, wie die Stärkung der digitalen Gesundheitskompetenz den Rollenwechsel der Krankenkassen vom Zahler hin zum Gesundheitspartner der Versicherten unterstützen kann.


Einstieg in die Gesundheitskompetenz

Der Kabarettist Werner Koczwara hat mal gesagt, sollte jemand aus Deutschland gefragt werden, welchen Satz er in seinem Leben am häufigsten gehört hätte, dann wäre es nicht „God save the Queen“ wie bei den Briten, oder „Liberté, Égalité, Fraternité“ wie bei den Franzosen, sondern vermutlich die Floskel „Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“. Omnipräsent im deutschen Fernsehen seit dem Arzneimittelgesetz von 1990 und besonders einprägsam durch die rasante Geschwindigkeit, in der der verpflichtende Disclaimer vorgelesen wurde, hat dieser Slogan seinen Weg in die Ohren, und ganz eventuell auch Herzen, der Deutschen gefunden. Als der galant von der Zunge rutschende Werbespruch dann letztes Jahr geändert wurde – vermutlich, weil irgendwann irgendwem - aufgefallen ist, dass in Deutschland auch Frauen den Beruf der Ärztin oder der Apothekerin ausüben – war das auch direkt mehrere Nachrichtenmeldungen in Presse und Internet wert.

„Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und…“ – dieser Spruch ist bis heute sinnbildlich für Gesundheitskompetenz. Ursprung war ein Gutachten der Universität Mainz, dass Menschen sich im Zusammenhang mit entsprechenden Fragestellungen primär bei Ärzt*innen und Apotheker*innen informieren1. Die Anekdote um den bekannten Werbespruch verdeutlicht ein grundlegendes Element der Gesundheitskommunikation in Deutschland: die Betonung der Eigenverantwortung und der aktiven Rolle jedes Einzelnen in der Gestaltung seiner Gesundheitsversorgung. Diese Fähigkeit, gesundheitsrelevante Informationen zu verstehen, zu bewerten und zu nutzen, ist entscheidender denn je in einer Zeit, in der das Gesundheitssystem konfrontiert ist mit einer Flut an Informationen, digitalen Gesundheitsanwendungen und einem sich wandelnden Verständnis der Rolle der Krankenkassen.

Der aktuelle Stand der Gesundheitskompetenz in Deutschland

Vor diesem Hintergrund stehen die Krankenkassen heute vor Herausforderungen, die weit über die bloße Kostenerstattung hinausgehen. In einer Gesellschaft, in der chronische Krankheiten zunehmen und die demografische Entwicklung eine immer älter werdende Bevölkerung vorhersagt, wird die Fähigkeit, Bürgerinnen und Bürger zu befähigen, informierte Entscheidungen über ihre Gesundheit zu treffen, immer wichtiger.

Mehr als die Hälfte der Bevölkerung (58,8% laut HLS-GER 2 Studie der Universität Bielefeld aus 2021) hat dabei erhebliche Schwierigkeiten im Umgang mit Gesundheitsinformationen. In besonderem Maße betroffen sind hier vulnerable Gruppen wie die mit niedriger Bildung, niedrigem Sozialstatus, Migrationshintergrund oder chronischen Erkrankungen2. Nachholbedarf besteht explizit in der digitalen Gesundheitskompetenz, also der Fähigkeit zum Umgang mit digital zur Verfügung stehender, gesundheitsrelevanter Information und digitaler Technologie3. Etwas mehr als drei Viertel der Bevölkerung in Deutschlang (75,8%) verfügt über eine problematische oder inadäquate digitale Gesundheitskompetenz2.

Relevanz des Themas für die gesetzliche Krankenkasse

Spätestens hier liegt die Relevanz des Themas für Krankenkassen auf der Hand: Versierte Versicherte, die in der Lage sind, Gesundheitsinformationen zu verstehen, kritisch zu bewerten und darauf basierend fundierte Entscheidungen zu treffen, stellen einen wesentlichen Faktor für ein effizientes und nachhaltiges Gesundheitssystem dar. Durch die Förderung der Gesundheitskompetenz können Krankenkassen nicht nur die individuelle Gesundheit ihrer Mitglieder verbessern, sondern auch langfristig die Kosten im Gesundheitssystem senken. Versicherte mit hoher Gesundheitskompetenz tendieren dazu, präventive Maßnahmen stärker zu nutzen, Krankheiten frühzeitig zu erkennen und Behandlungen effektiver zu gestalten, was zu einer Verringerung unnötiger Arztbesuche, Krankenhausaufenthalte und teurer medizinischer Behandlungen führt4. Zum Thema der digitalen Gesundheitskompetenz ist den Kassen im SGB V sogar ein Auftrag zum Fördern der solchen im Kreis ihrer Versicherten mitgegeben (§20k).

Und selbst ohne diesen gesetzlichen Auftrag sollte es in Kassen die intrinsische Motivation geben, sich dem Thema Gesundheitskompetenz zuzuwenden. Slogans wie „Vom Verwalter zum Gestalter“ oder „Vom Payer zum Player“ sind im Kontext GKV seit der Jahrtausendwende präsent5,6, und obwohl die Kassen bereits mehr als einen ersten Schritt in dieser Richtung getan haben, ist der Weg noch lange nicht zu Ende gegangen. Wenn wir darüber reden, dass zukünftig „shared decision making“ die Regel und nicht die Ausnahme im Gesundheitswesen sein soll, dann ist es umso relevanter, dass Versicherte auch verstehen, was um sie herum passiert.

Denn das Gesundheitssystem in Deutschland wird immer komplexer, in einem immer rasanteren Tempo. In den letzten Jahren zogen vermehrt digitale Themen wie E-Rezept, elektronische Patientenakte (ePA) und digitale Gesundheitsapps in das Tagesgeschäft von Arztpraxen und Krankenkassen ein – parallel dazu bleiben Versicherte mit mangelnder digitaler Gesundheitskompetenz „auf der Strecke“.

Welche Lösungsansätze gibt es?

Es gilt also den Zugang zur digitalen Gesundheitskompetenz so niedrigschwellig wie möglich zu halten. Exemplarisch seien hier fünf Lösungsansätze genannt, die sich der Thematik aus verschiedenen Perspektiven nähern.

1. Berücksichtigung in der Produktentwicklung

Es ist essenziell, die Benutzerfreundlichkeit und Zugänglichkeit zu maximieren. Dies gewährleistet, dass alle Anwender*innen, unabhängig von ihrem Bildungsniveau oder technischen Kenntnissen, digitale Angebote wie die ePA, die Service-App oder auch digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) effektiv nutzen können. So wird die Eigenverantwortung gestärkt und der Zugang zu Gesundheitsinformationen vereinheitlicht.

2. Individualisierte digitale Lotsenfunktionen

Digitale Lotsen können dabei helfen, Versicherte in die individuell passenden Angebote zu steuern. Sie holen die Nutzenden dort ab, wo sie stehen und informieren über individuelle Mehrwerte.

3. Digitale Gesundheitskompetenz im Haus stärken

Der, gerade von den digital weniger affinen Zielgruppen, am häufigsten genutzte Kommunikationskanal ist das Telefon, teilweise findet sogar noch der Besuch im Service Center vor Ort hohen Zuspruch. Hier erwarten Versicherte kompetente Beratung durch die Sachbearbeitenden ihrer Krankenkasse. Dies gilt in zunehmendem Maße auch im Hinblick auf die digitalen Angebote ihrer Versicherung. Dafür ist eine hohe digitale Gesundheitskompetenz der Mitarbeitenden unabdingbar – denn nur, wer etwas selbst versteht, kann es anderen Menschen gut beibringen. Projekte wie die Einführung eines digitalen Führerscheins zeigen hier großen Erfolg.

4. Neue Wege der Aufklärung

Das Potential von Gamification ist jedem bekannt, der schon einmal mit einem Grundschulkind über Pokémon geredet hat und verwundert war, wie viele verschiedene kleine Monster mit Namen präzise zugeordnet werden können. Pionierarbeit leistet hierbei beispielsweise das Projekt „Escape the Unknown“ von Pharmaziehersteller Roche (https://www.escape-the-unknown.de), welches als digitaler Escape Room den Spielenden das Thema Gesundheitskompetenz näherbringt.

5. Sektorübergreifende Zusammenarbeit stärken

Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist ein holistischer Prozess. Auch digitale Gesundheitskompetenz muss von vielen Akteur*innen gefördert und in der Praxisgelebt werden, um nachhaltig zu funktionieren. Anstrengungen der Krankenkasse, Versicherten die Vorteile der elektronischen Patientenakte (ePA) nahezubringen, sind beispielsweise wenig erfolgsversprechend, wenn die Versicherten dann schlussendlich eine leere ePA vorfinden, weil Ärzt*innen und medizinische Fachangestellte diese nicht befüllen (können).

Fazit und Ausblick

Gemäß §20k SGB V sind gesetzliche Krankenkassen verpflichtet, Maßnahmen zur Förderung der Gesundheitskompetenz ihrer Versicherten zu ergreifen. Gleichzeitig eröffnen sich durch ein Engagement in diesem Bereich zahlreiche Möglichkeiten:

Durch gezielte Aktivitäten zur Steigerung der (digitalen) Gesundheitskompetenz ihrer Versicherten können Krankenkassen sowohl einen Beitrag zur Verbesserung der individuellen Gesundheit leisten als auch zur Effizienzsteigerung und Kostensenkung im Gesamtsystem. Die enge Zusammenarbeit mit allen Akteuren des Gesundheitssystems wird dabei zu einem Schlüssel für den Erfolg.

Zukünftig wird es für Krankenkassen zunehmend relevant, ihre Strategien und Angebote kontinuierlich weiterzuentwickeln und sich als kompetente Begleiter ihrer Versicherten in allen Gesundheitsfragen zu etablieren. Dabei ist es essenziell, dass sie den Weg zur Erlangung und Stärkung der Gesundheitskompetenz für ihre Versicherten zugänglich und verständlich gestalten.

Beim ITSC bündeln wir das Interesse verschiedener Kassen unter dem Gedanken der Coopetition – also einer Mischung aus Cooperation und Competition. Gemeinsam identifizieren wir sowohl kassenübergreifende als auch kassenspezifische Probleme und bieten dafür innovative Lösungen an, um unseren Kunden einen Vorteil auf dem Markt zu verschaffen.

 

Tim Bartling

Tel.: 0511-27071-452
Tim.Bartling@itsc.de

Wir freuen uns auf Ihre Nachricht

Quellenangabe:

  1. Tebroke, E. (2021) Die Geschichte von „Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker“. Pharmazeutische Zeitung, abgerufen am 21.02.24 unter https://www.pharmazeutische-zeitung.de/die-geschichte-von-fragen-sie-ihren-arzt-oder-apotheker-124376/

  2. Schaeffer, D., Berens, E.-M., Gille, S., Griese, L., Klinger, J., de Sombre, S., Vogt, D., Hurrelmann, K. (2021): Gesundheitskompetenz der Bevölkerung in Deutschland – vor und während der Corona Pandemie: Ergebnisse des HLS-GER 2. Bielefeld: Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung (IZGK), Universität Bielefeld. DOI: https://doi.org/10.4119/unibi/2950305

  3. Ratzan SC, Parker RM. Introduction. In: Seldon CR, Zorn M, Ratzan SC, Parker RM, editors. National Library of Medicine Current Bibliographies in Medicine: Health Literacy. NLM Pub. No. CBM 2000-1 ed. Washington, DC: National Institutes of Health, US Department of Health and Human Services; 2000

  4. Nutbeam D, Lloyd JE. Understanding and Responding to Health Literacy as a Social Determinant of Health. Annu Rev Public Health. 2021 Apr 1;42:159-173. doi: 10.1146/annurev-publhealth-090419-102529. Epub 2021 Oct 9. PMID: 33035427.

  5. Bode, Ingo (2002): Vom Payer zum Player - oder: Krankenkassen im Wandel: Der Fall der AOK und ein vergleichender Exkurs nach Frankreich. In: Duisburger Beiträge zur Soziologischen Forschung, abgerufen am 21.02.24 unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:hbz:464-20120718-130153-7.

  6. Niedermeier, Renate (1999), Vom Verwalten zum Gestalten? Neue Steuerungskonzepte und gewan- deltes Selbstverständnis in der Gesetzlichen Krankenversicherung; S.65-98 in: Marstedt, Gerd / Milles, Dietrich / Müller, Rainer (Hg.), Gesundheitskonzepte im Um-bruch; Bremerhaven: Wirtschaftsverlag NW